Wie oft verlieren wir uns im täglichen Leben – in seinen Routinen, Sorgen und Freuden? Es gibt jedoch Einsichten, die uns helfen können, über den Moment hinauszublicken und unser Leben aus einer tieferen Perspektive zu betrachten. Im Buddhismus, besonders in der tibetischen Tradition, sind diese Einsichten als die „Vier Gedanken, die den Geist von Samsara abwenden“ bekannt.
Ich habe schon einige Artikel zu diesen Gedanken geschrieben und fasse sie hier noch einmal zusammen. Lass uns noch einmal gemeinsam erkunden, warum die Gedanken so kraftvoll sind und wie sie uns helfen können, ein bewussteres Leben zu führen.
In der Karma Kagyü Linie zum Beispiel werden dazu folgende Worte rezitiert:
„Bleibe deinem Samaya (Gelübde) und den Anweisungen deines Vajrayana-Meisters treu, verneige dich demütig vor den Quellen der Zuflucht, nimm deinen Platz ein, und richte dich in Übereinstimmung mit den fünf Punkten der Meditationshaltung auf. Dann entschließe dich, das vollkommene Dharma zu praktizieren, ohne den Geist unter den Einfluss der acht weltlichen Dharmas geraten zu lassen. Während du rezitierst, lasse nicht zu, dass dein Geist abschweift, sondern behalte den Klang und den Sinn der Worte bei. Mit dieser Haltung rezitiere laut die folgenden Verse:“
1. Das kostbare menschliche Leben
Hast du jemals darüber nachgedacht, wie unwahrscheinlich es ist, genau hier zu sein – mit einem menschlichen Körper, einem klaren Geist und der Möglichkeit, zu lernen, zu wachsen und spirituell zu praktizieren? In der tibetischen Tradition wird dieses Leben als ein unglaublich kostbares Geschenk betrachtet. Es ist wie ein seltener Edelstein, der uns die Möglichkeit gibt, das Dharma (die Lehren) zu verstehen und uns spirituell weiterzuentwickeln.
Doch dieses Leben ist auch vergänglich. Es kann jederzeit enden, und deshalb sollten wir es nicht verschwenden. Die Frage ist: Wie können wir es wirklich sinnvoll nutzen? Vielleicht indem wir uns fragen: „Was ist mir wirklich wichtig?“ Und dann beginnen, unser Leben danach auszurichten.
„Erstens ist diese kostbare menschliche Geburt, die so günstig für die Praxis des Dharma ist, schwer zu erlangen und leicht zu verlieren. Zu dieser Zeit muss ich ihr Bedeutung verleihen, in dem ich genau jetzt das Dharma praktiziere.“
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2. Tod und Vergänglichkeit
Alles, was entsteht, vergeht. Diese Wahrheit kann uns zunächst erschrecken, doch sie birgt auch eine tiefgreifende Weisheit. Unsere Lebenszeit ist begrenzt, und kein Tag ist garantiert. Die tibetischen Texte vergleichen unser Leben mit einer Wasserblase – fragil, wunderschön, aber vergänglich.
Diese Einsicht lehrt uns, den Moment zu schätzen. Sie erinnert uns daran, was wirklich zählt: nicht der oberflächliche Erfolg oder flüchtige Vergnügungen, sondern die inneren Qualitäten wie Mitgefühl, Weisheit und Achtsamkeit. Was wäre, wenn wir jeden Tag so leben könnten, als wäre er unser letzter – nicht in Angst, sondern in Wertschätzung und Klarheit?
„Zweitens, die Welt und alle ihre Bewohner sind vergänglich. Insbesondere das Leben eines jeden Wesens ist wie eine Wasserblase. Es ist ungewiss, wann ich sterben und ein Leichnam werden werde. Da es nur der Dharma ist, der mir zu diesem Zeitpunkt helfen kann, muss ich jetzt mit Eifer praktizieren.“
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3. Karma – Ursache und Wirkung
Wir sind Schöpfer unseres Lebens, ob wir es bewusst wahrnehmen oder nicht. Unsere Handlungen – ob Gedanken, Worte oder Taten – hinterlassen Spuren. Diese Spuren, Karma genannt, prägen unser Erleben und bestimmen, was wir in der Zukunft erfahren werden.
Statt uns von dieser Vorstellung einengen zu lassen, können wir sie als Einladung sehen: Wir haben die Macht, unser Leben zu gestalten. Indem wir unheilsame Handlungen vermeiden und heilsame fördern, können wir nicht nur unser eigenes Leben bereichern, sondern auch das der Menschen um uns herum. Ein erster Schritt könnte sein, den eigenen Geist täglich zu beobachten und sich zu fragen: „Was bringe ich in die Welt?“
„Drittens, nach dem Tod gibt es keine Freiheit, und das Karma nimmt seinen Lauf. Da ich mein eigenes Karma erschaffe, sollte ich daher alle unheilsamen Handlungen aufgeben und meine Zeit stets heilsamen Handlungen widmen. In diesem Sinne muss ich jeden Tag meinen Geistesstrom beobachten.“
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4. Die Leiden des Samsara
Samsara, der endlose Kreislauf von Geburt, Tod und Wiedergeburt, ist geprägt von Leiden – auch wenn wir das oft nicht sehen wollen. Selbst die scheinbaren Freuden des Lebens sind, wie die Texte sagen, „ein Festmahl vor der Hinrichtung“. Warum? Weil sie vergänglich sind und oft an Bedingungen geknüpft, die uns weiter in Anhaftung verstricken.
Doch diese Erkenntnis ist nicht dazu da, uns zu entmutigen. Sie will uns ermutigen, tiefer zu blicken und uns von den Ketten der Anhaftung zu lösen. Was wäre, wenn wir lernen könnten, loszulassen – nicht aus Verlustangst, sondern aus einem inneren Wunsch nach Freiheit und wahrem Glück?
„Viertens, so wie ein Festmahl vor dem Henker mich in den Tod führt, verursachen die Häuser, Freunde, Vergnügungen und Besitztümer von Samsara durch die drei Leiden ständige Qualen für mich. Ich werde alle Anhaftungen durchschneiden und danach streben, Erleuchtung zu erlangen.“
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Praktische Inspiration für deinen Alltag
Wie kannst du diese vier Gedanken in deinem Leben anwenden? Hier sind einige einfache Schritte:
- Nimm dir Zeit für Reflexion: Setz dich einmal die Woche hin und denke über die Vergänglichkeit und Kostbarkeit deines Lebens nach.
- Kultiviere Achtsamkeit: Beobachte deinen Geist und erkenne, welche Gedanken und Handlungen dir und anderen schaden – und welche Nutzen bringen.
- Übe Dankbarkeit: Schätze die kleinen Dinge im Leben. Dein Atem, die Wärme der Sonne, die Gegenwart eines Freundes.
- Finde den Mut, loszulassen: Frage dich, was dich wirklich glücklich macht – und was dich festhält, ohne dir Frieden zu geben.
Ein abschließendes Gebet
In den Texten der Karma Kagyü Linie heißt es zum Schluss:
„Möge ich die Tugend, die ich durch diese Praxis ansammle, allen fühlenden Wesen widmen, damit allen ohne Ausnahme den Zustand der Buddhaschaft gewährt wird und sie den inneren Pfad zum Vajra-Geist gehen können, eine nicht sterbende, ewig glückselige Vereinigung von Weisheit und geschickten Mitteln.“
Vielleicht kannst auch du diesen Gedanken zu deinem eigenen machen. Möge dein Leben – durch diese Reflexionen und durch dein Handeln – nicht nur dir selbst, sondern auch anderen dienen.
Das Leben ist kurz, aber voller Möglichkeiten. Nutze es, um deinem Herzen und Geist Raum zu geben. Du trägst den Schlüssel zu einem bewussten Leben bereits in dir.
Quelle: Aus der Sadhana von Wangchuk Dorje.