Falterzeit

Falterzeit

ein Gedicht über Vergänglichkeit, Krieg und die Schlaflosigkeit der Gier

I
Bleiern sinkt das Licht in den Staub der Zikaden,
ausgezehrt steht der Pflaumenbaum –
sein Schatten: ein ausgehungertes Pferd
auf den Feldern hinter der Zeit.
Ein Kind faltet das Abendrot
zu einem Schiff aus Knochenpapier.
Wie viele Monde braucht der Mensch,
um zu verstehen, dass sie nicht aus Silber sind?

II
Die Zunge der Zeit trägt Brandnarben –
man hat ihr die Glocken aus der Kehle gelötet.
Und du,
der du im Glashaus der Doktrinen sitzt:
Wem gilt dein Schweigen,
wenn nicht den Toten im Ölmeer der Märkte?
Feuerkraut brennt in den Augen der Krähen.
Sie singen nicht.
Sie zählen.

III
In den Ämtern:
Worte, bleich wie Chrysanthemen,
gewunden um Paragraphen,
deren Wurzel Eisen frisst.
Wer zählt die Särge aus Pixeln?
Wer malt das „Nie wieder“
in die Asche der Nachrichten?

IV
Ein Mönch fegt den Staub vom Sutra,
doch der Staub kehrt zurück,
kehrt immer zurück –
mit Uniformen,
mit Diplomatensprech,
mit Kinderhänden, die Bomben auspacken
wie Geburtstagsgeschenke.
Wie nennt man das,
was man nicht mehr denken darf?

V
Da ist ein Wind,
der durch uns geht –
ein Wind aus Nichtwissen,
aus Gier,
aus Angst,
ein kalter Atem,
der Städte faltet wie Origami aus Rauch.
Und du, Mensch:
Was suchst du in den Ruinen deiner eigenen Wünsche?

© 19.06.2025 Chris Nivata  – Alle Rechte vorbehalten.


Meditativer Kommentar zu „Falterzeit“

Vergänglichkeit erkennen heißt, erwachen lernen.

Dieses Gedicht ist mehr Schichtung als Erklärung, mehr Ahnung als Antwort. Es ist kein Aufruf zum Widerstand im herkömmlichen Sinne – sondern zur Wahrhaftigkeit.
Es zeigt Bilder, die wie Spiegel wirken, nicht wie Thesen: Ein Kind faltet das Abendrot. Krähen zählen.

Dinge, die poetisch klingen – und doch schwer wiegen.
Die Strophen verweben äußeren Zerfall mit innerer Unruhe.
Buddha lehrte: Die Erinnerung an den Tod ist nicht düster, sondern befreiend.
Denn wer das Endliche erkennt, verliert das Interesse an Krieg, Gier und Kontrolle.
Nicht aus Moral – sondern aus Klarblick.

Falterzeit tastet sich an diese Wahrheit heran:
Dass die Systeme, die wir bauen – politisch, wirtschaftlich, ideologisch –
sich oft wie gläserne Gefängnisse verhalten.
Aber wir halten den Schlüssel:
In der Stille.
Im Innehalten.
In der Frage, die uns nicht loslässt:

„Was suchst du in den Ruinen deiner eigenen Wünsche?“

Diese letzte Frage ist kein Vorwurf. Sie ist ein Impuls.
Zur Rückkehr.
Zur geistigen Unabhängigkeit.
Zur Praxis.

Du kannst dieses Gedicht also meditativ lesen. Vielleicht so:

  • Setze dich still hin.
  • Lies langsam eine Strophe – und spüre das Bild.
  • Lass die Fragen offen – wie Fenster.
  • Und dann bleib mit dem, was kommt.

Gedichte wie dieses sind keine Flucht aus der Welt,
sondern ein anderer Weg, ihr zu begegnen.
Mit offenem Herzen.
Und mit einem Geist, der gelernt hat zu sehen,
was stirbt – und was nicht.

Nivata