10. Öffne dein Herz in liebender Güte für alle Wesen. Sieh, wie sie ohne Ausnahme – ob in den niederen Bereichen, in Geburt, Tod oder Übergängen – inmitten des Leidens wandeln. Und wie Schmerz durch Schmerz genährt wird – ein Kreislauf, der das Mitgefühl in uns ruft.11. Wenn dein Herz den Wunsch fasst, alle Wesen aus dem Leiden und seiner Wurzel zu befreien, dann erwecke in dir selbst den Entschluss, der nicht mehr weicht: den Geist der Erleuchtung, den Herzgeist, zu erwecken – für sie alle.*
Atishas Lampe auf dem Weg zur Erleuchtung – Teil 3
Es gibt eine besondere Kraft im menschlichen Geist – oder besser gesagt: im Herzen. Eine Kraft, die sanft ist und zugleich unermesslich stark. Eine Kraft, die alle Trennung heilt und jedes Streben veredelt. In der buddhistischen Tradition nennen wir sie Bodhichitta, den „Erleuchtungsgeist“. Ich selbst nenne ihn oft den Herzgeist. Warum?
Weil Bodhichitta mehr ist als eine Idee oder ein ethisches Ideal. Es ist die Bewegung des Herzens, das sich dem Leid der Welt nicht mehr verschließt. Es ist der Mut, sich berühren zu lassen. Und es ist die Reife, aus Mitgefühl eine Lebensrichtung zu machen – klar, entschlossen und warm.
In den Versen 10 und 11 des Wurzeltextes von Atisha begegnet uns dieser Herzgeist in seiner reinen Form. Und er lädt uns ein, ihn nicht nur zu bewundern, sondern zu wecken – in uns selbst.
💚 Die Welt mit dem Herzen sehen
Atisha beginnt hier mit einem einfachen, aber radikalen Vorschlag: Öffne dein Herz. Nicht für einige, nicht für die dir Nahestehenden, sondern für alle Wesen – ohne Ausnahme. Sieh ihr Leid. Spüre es. Und erlaube, dass dieses Mitfühlen dich verändert.
Ob Tiere, hungrige Geister oder leidende Menschen – jedes Wesen, das im Daseinskreislauf gefangen ist, trägt die Last von Geburt und Tod, von Hoffnung und Verlust, von Verwirrung und Schmerz. Selbst die Götter – in ihrer scheinbaren Ekstase – leben nicht frei, sondern sind von der Dharma-Vergessenheit betäubt.
Wenn wir lernen, mit diesem Blick auf die Welt zu schauen – mit dem Auge der liebenden Güte –, dann beginnt das Herz, sich auf neue Weise zu bewegen. Es wird weich. Und zugleich wach. Diese meditative Öffnung kann ganz einfach beginnen – mit der stillen Frage im eigenen Herzen:
Was wäre, wenn ich sie alle wirklich sehen würde?
Der Schwur, der das Herz verändert
Hier spricht Atisha vom Erwachen der großen Entschlossenheit. Es reicht nicht, Mitgefühl zu fühlen – es braucht eine innere Verpflichtung. Einen Schwur, der Bestand hat, auch wenn der Weg lang ist. Das ist Bodhichitta: ein Entschluss, der größer ist als das eigene Leben. Eine Kraft, die nicht nur fragt: Wie kann ich erlöst werden?, sondern: Wie kann ich allen Wesen helfen, frei zu werden?
Dieser Entschluss wird nicht durch äußeren Druck geboren, sondern aus einer tiefen inneren Reifung. Aus der Meditation über das universelle Leiden. Aus der Erfahrung, dass selbst in Glücksmomenten die Angst vor Verlust mitschwingt. Und aus der Bereitschaft, aus Liebe zu handeln – kompromisslos.
🙏 Bodhichitta – Ein stilles Versprechen
Wer diesen Weg geht, braucht nicht viele komplizierte Belehrungen.
Ein einziges reicht: Lass dein Herz weit werden für alle Wesen.
Lass dein Mitgefühl Wurzeln schlagen. Und dann geh – Schritt für Schritt – in diese Richtung.
Denn wer Bodhichitta im Herzen trägt, gibt ein leises, aber unerschütterliches Versprechen:
Solange ein einziges Wesen leidet, ist mein Weg nicht zu Ende.
🤗 Der Geist, der verbindet
Bodhichitta ist kein abstraktes Konzept. Es ist der Moment, in dem das Herz sagt: Nicht ich allein.
Es ist der Entschluss, das Leiden aller nicht zu ignorieren – sondern sich hineinzuwerfen, um zu helfen. Nicht aus Pflicht, sondern aus Liebe. Aus Klarheit. Und aus dem tiefen Wissen: Erleuchtung ist nichts Privates.
Möge der Herzgeist in dir wachsen.
Möge dein Mitgefühl dich führen.
Möge deine Entschlossenheit nicht weichen – für sie alle.
* aus Atishas Wurzeltext „Die Lampe auf dem Weg zur Erleuchtung“; Übersetzung aus dem Tibetischen von Nivata