Atisha - Drei Arten von Geist

Drei Arten von Geist – Impulse für Herzensreife und Klarblick

2. Wisse: Es gibt drei Arten von Praktizierenden – die mit kleinem, mittlerem und großem Geist. Ich werde nun ihre Eigenschaften beschreiben und zeigen, was sie voneinander unterscheidet.

3. Wer sich wie auch immer bemüht, selbst glücklich in Samsara zu werden, gehört zu jenen, die man Menschen mit kleinem Geist nennt.

4. Jene, die den Freuden der Welt den Rücken kehren, alle zerstörerischen Taten meiden und sich ganz dem inneren Frieden widmen – sie nennt man Menschen mit mittlerem Geist.

5. Wenn das eigene Herz vom Leid berührt ist und ein wahrer Wunsch entsteht, das Leiden aller Wesen vollständig zu beenden, dann spricht man von einem Menschen von höchstem Geist.*

Atishas Lampe auf dem Weg zur Erleuchtung – Teil 2

Was Atisha uns heute noch über unsere spirituelle Ausrichtung lehren kann

Im 11. Jahrhundert lehrte der buddhistische Meister Atisha in seinem Werk Die Lampe auf dem Weg zur Erleuchtung, dass es drei Arten von Menschen gibt – je nach der Ausrichtung ihres Geistes. Dieser grundlegende Text der Lamrim-Tradition (Stufen des Pfades) beschreibt den systematischen Weg zur Erleuchtung und integriert Elemente der Lojong-Praxis (Geistesschulung), insbesondere die Entwicklung von Bodhichitta. Seine Unterweisungen sind bis heute von berührender Relevanz.

Doch bevor wir tiefer eintauchen, ist eine Sache wichtig zu verstehen:
🪷 Diese drei Geisthaltungen sind keine festen Etiketten.
Wir alle tragen sie in uns – wie unterschiedliche Stimmen oder Stimmungen. Je nach Lebenslage, Tagesform oder Reifeprozess kann eine von ihnen dominieren.
Manchmal wachen wir auf mit Sehnsucht nach Frieden, manchmal mit Sorgen ums Geld. Und manchmal öffnet sich unser Herz ganz natürlich für andere.
Die Lehre ist also keine Bewertung, sondern eine liebevolle Landkarte des Geistes – die uns hilft zu sehen, wo wir gerade stehen … und wohin wir wachsen könnten.

Die drei Ausrichtungen des Geistes

Atisha schrieb sinngemäß:

Ein Mensch mit kleinem Geist fokussiert sich auf weltliche Ziele dieses Lebens (z. B. Gesundheit, Wohlstand).

Ein Mensch mit mittlerem Geist erkennt das Leiden des Samsara und strebt nach Befreiung, oft mit Blick auf zukünftige Leben.

Ein Mensch mit großem Geist entwickelt Bodhichitta und widmet sich dem Wohl aller fühlenden Wesen.

Hier spricht er drei Arten von Motivation an, die unser gesamtes Denken und Handeln färben können:

1. Der kleine Geist: Fokus auf dieses Leben

Ein Mensch mit kleinem Geist denkt vor allem an das, was im Hier und Jetzt angenehm, bequem oder erfolgreich macht.
Dabei kann auch Spiritualität zur Ego-Strategie werden – etwa wenn man meditiert, um sich zu beruhigen, gesünder zu werden oder „besser“ zu sein.
Das ist menschlich – und überhaupt nicht verwerflich. Doch es bleibt im Kreislauf von Samsara, dem unaufhörlichen Kommen und Gehen von Freude und Leid.

Oft wünscht sich der kleine Geist sogar ein besseres Leben in Samsara – etwa durch Wiedergeburt in einem himmlischen Bereich oder einem „spirituelleren“ Umfeld. Atisha erinnert uns: Auch das bleibt innerhalb des Leidkreislaufs, wenn es nicht tiefer geht.

2. Der mittlere Geist: Sehnsucht nach Befreiung

Ein Mensch mit mittlerem Geist beginnt, das große Bild zu sehen:
Dass Geburt, Krankheit, Alter und Tod unausweichlich sind.
Dass selbst höchste Freuden vergehen.
Dass nichts im Außen dauerhaft Sicherheit geben kann.

Daraus entsteht eine tiefe Sehnsucht: Frei zu werden. Nicht nur von äußeren Umständen, sondern von den inneren Ketten – von Gier, Ablehnung und Unwissenheit.
Spirituelle Praxis wird hier zur Medizin für das eigene Herz – mit dem Ziel, den Kreislauf von Samsara ganz zu überwinden.

3. Der große Geist: Mitgefühl ohne Grenzen

Ein Mensch mit großem Geist richtet seinen Weg nicht nur auf die eigene Befreiung – sondern auf das Wohlergehen aller fühlenden Wesen.
Hier erwacht das Herz vollständig:
Nicht aus Pflichtgefühl, sondern weil die Trennung zwischen „ich“ und „du“ durch Mitgefühl durchlichtet wird.

Solche Menschen – und Momente – sind selten, aber nicht fremd.
Vielleicht hast du selbst schon erlebt, wie in dir spontan eine tiefe Fürsorge für andere aufstieg.
Oder du hast einen Lehrer, ein Vorbild erlebt, das aus solcher Weite heraus lebte.

Der große Geist möchte nicht nur Freiheit – sondern Freiheit, die befreien kann.
Sein Ziel ist Erleuchtung: Nicht als Ideal, sondern als gelebte Fähigkeit, anderen in jeder Lage dienen zu können.

🌿 Welcher Geist lebt gerade in dir?

Diese Lehre lädt uns nicht ein, uns zu vergleichen oder gar zu verurteilen.
Sondern: bewusst zu spüren, von welchem inneren Ort wir gerade leben.

  • Ist es der Wunsch, dass es heute einfach gut läuft?
  • Oder die Sehnsucht nach innerem Frieden – unabhängig von äußeren Umständen?
  • Oder vielleicht ein spontanes Gefühl von Mitgefühl und Verantwortung für andere?

Manchmal reicht ein stiller Moment der Achtsamkeit, um zu erkennen:
Ah, heute ist mein Geist eher eng … oder eher weit … oder voller Mitgefühl.

Und genau da beginnt der Weg:
Nicht erst, wenn wir erleuchtet sind. Sondern jetzt, wo wir wach werden für das, was uns wirklich bewegt.

✨ Praktischer Impuls für den Alltag

Nimm dir heute einen Moment der Stille – vielleicht zwischen zwei Terminen oder mit einer Tasse Tee.
Frag dich mit offenem Herzen:

„Von welchem Geist lasse ich mich heute leiten?“

„Und welcher Schritt könnte mich näher zum großen Geist führen?“

Nicht aus Druck – sondern aus Vertrauen.
Denn in dir lebt dieses Potenzial längst.
Die Erinnerung daran ist bereits der erste Schritt zur Verwirklichung.

* aus Atishas Wurzeltext „Die Lampe auf dem Weg zur Erleuchtung“; Übersetzung aus dem Tibetischen von Nivata