Ich verneige mich vor dem jugendlichen Manjushri.1. Mit tiefem Respekt verneige ich mich vor allen Siegreichen der drei Zeiten, vor ihrer reinen Lehre und der kraftvollen Gemeinschaft. Auf das innige Anliegen meines guten Schülers Jangchup Ö hin möge die Lampe des Weges zur Erleuchtung hell erstrahlen.*
Wenn ich den Text Die Lampe auf dem Weg zur Erleuchtung öffne, spüre ich gleich zu Beginn die Einladung von Atisha, uns gemeinsam vor Manjushri zu verbeugen – dem Bodhisattva der Weisheit, der den Geist mit klarem Licht erfüllt. Diese Verbeugung ist wie ein liebevolles Zurückkehren zu der inneren Quelle, die uns auf dem Weg begleitet und uns immer wieder daran erinnert, mit welcher Offenheit wir die Praxis angehen dürfen.
Ebenso lädt uns Atisha ein, uns vor allen Buddhas der Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft zu verneigen – jene Siegreichen, die den Weg der Befreiung gegangen sind, sowie vor ihrer reinen Lehre (Dharma) und der unterstützenden Gemeinschaft (Sangha). Dharma steht für unsere Meditation und offenbart sich in klarer Einsicht, Sangha ist unser mitfühlendes Handeln und gutes Verhalten. So öffnet sich unser Herz für die kraftvollen Qualitäten, die in jedem von uns wohnen und uns immer wieder neu inspirieren, bewusst zu schauen.
Auf das Herzensanliegen seines treuen Schülers Jangchup Ö hin – der selbst mit großem Bodhichitta, mit erwachtem Herzen, den Weg sucht – hat Atisha diesen Text verfasst, um für uns allen eine Lampe anzuzünden. Eine Lampe, die uns Orientierung schenkt, wenn wir auf dem oft unsicheren Pfad der spirituellen Entwicklung unterwegs sind.
Wer war Atisha?
Atisha war ein außergewöhnlicher Meister, der in einer Zeit lebte, in der der Buddhismus sich wandelte und große Herausforderungen zu meistern hatte. Er war ein Mensch, der selbst tief in den Lehren verankert war, gleichzeitig voller Mitgefühl für alle fühlenden Wesen. Er war ein Bodhisattva, ein erwachter Lehrer, der sein Leben dem Ziel widmete, das Leiden zu beenden – nicht nur für sich selbst, sondern für alle.
Mit seiner Präsenz und seinem Schreiben hat er dazu beigetragen, den Buddhismus in Tibet neu zu beleben und klare, praktische Anleitungen zu geben, die Menschen jeden Charakters und jeder Fähigkeit offenstehen. Seine Lampe ist keine abstrakte Philosophie, sondern eine Einladung, den Weg Schritt für Schritt zu gehen – mit Mut, Klarheit und Herz.
Ein Weg, der über das Gewohnte hinausführt
Der gesamte Text mit seinen 68 Strophen macht deutlich: Der Weg, den Atisha beschreibt, ist mehr als das Sammeln von Wissen oder das bloße Einhalten von Regeln. Es ist ein lebendiger Prozess, der uns dazu bringt, unsere gewohnte Sicht zu hinterfragen und zu erweitern.
Manchmal sehe ich das gerne aus dem Blickwinkel der Non-Dualität – was nicht einfach nur bedeutet, dass Gegensätze aufgelöst werden. Vielmehr öffnet sich eine neue Sicht, in der wir erkennen können, wie verwoben alles ist: Wie Leid und Freude, Selbst und Andere, Anfang und Ende zusammenfließen können, ohne sich gegenseitig auszuschließen. Diese Offenheit entsteht nicht im Kopf, sondern in einer direkten Erfahrung, die unser Herz berührt.
Atishas Lampe ist ein Werkzeug, das uns auf diesem Weg begleitet. Sie zeigt uns, wie wir die Verwirrung des Geistes durchschauen können, um Schritt für Schritt in ein freieres, klareres und mitfühlenderes Leben zu finden.
Eine Einladung an dich
Wenn du dich auf diesen Weg einlassen willst, kannst du mit dieser Verbeugung beginnen – eine Geste des Respekts und der Hingabe, die deinen Geist öffnet. Du kannst dir auch ganz bewusst eine Kerze anzünden, als sichtbares Symbol für die innere Lampe, die in dir brennt. Diese äußere Handlung unterstützt die Hinwendung zu deiner eigenen guten Natur, zu jener Quelle von Weisheit und Mitgefühl, die schon immer in dir wohnt.
Atisha entzündet mit seinem Werk eine Lampe, die uns als Inspiration dient und den Weg erhellt – sei es durch Worte, Meditation oder die stille Präsenz unseres eigenen Herzens.
Möge diese kleine Einladung dir Mut machen, dich immer wieder dem Licht der Weisheit zuzuwenden – sanft, aber bestimmt, im Vertrauen auf das, was in dir schon erwacht.
* aus Atishas Wurzeltext „Die Lampe auf dem Weg zur Erleuchtung“; Übersetzung aus dem Tibetischen von Nivata

